Natur beobachten – Ein Interview

Was hat das alte Rom mit Naturschutz zu tun, wie kann sich eine autodidaktisch mit Natur beschäftigen und warum sollte ich von manchen Untersuchungsmethoden lieber die Finger lassen? Ich habe mit Harald Kutzenberger von TBK – Kutzenberger gesprochen und er hatte viele spannende Antworten für unendlich viele Fragen.

­­­­Isabella: Harald, wie hast du mit Naturbeobachtung angefangen?

Harald:Im Garten meiner Eltern. Ab  meinem 10. Lebensjahr habe ich alle Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke in Fachbücher umgeleitet. Ab 12 bin ich dann gerne in die Naturkundliche Station der Stadt Linz gelaufen, um mit dem geduldigen Senatsrat Grohs, dem dortigen Zoologen zu reden. Mein Bruder und ich haben dann mit unserem Biologielehrer am Gymnasium eine Ortsgruppe der Naturschutzjugend gegründet. Wir haben es aber nach einem Jahr wieder bleiben lassen, weil alle zu faul waren, eine Vereinsstruktur aufzubauen. Aber wir haben ein paar schöne Radausflüge mit unserem Lehrer gemacht und im Linzer Industrieviertel über Vögel, Kriechtiere und Lurche gelernt, und dass auch eine Großstadt viele Geheimnisse birgt.

Ausflüge bieten viele Gelegenheiten.
Ausflüge bieten viele Gelegenheiten.

I: Welche Vorteile hat Studieren im Vergleich zu autodidaktischem Arbeiten?

H: Am wichtigsten ist es, dass eine systematisches Arbeiten verstehen lernt. Dass es nicht nur eine Naturliebhaberei ist, sondern ein systemares Verständnis der Ökologie; und den technischen Teil: was ist Landwirtschaft, was ist Forstwirtschaft, die Spannungsfelder und das einordnen zu können.

I: Was ist für dich das schwierigste an der Naturbeobachtung?

H: Eines der großen Probleme ist, dass wir zu kleine Zeitabschnitte überschauen. Das was wir jetzt tun, ist die Scherben aus dem alten, patriarchalen Rom aufzuräumen. Das römische Recht war dadurch definiert, dass nur die männlichen, erwachsenen Bürger der Stadt Rom Rechtssubjekte waren. Alle anderen Mitglieder der belebten Welt, wie z.B. Tiere, waren Sachen. Das war bis vor kurzem unser Rechtsbestand und ist es noch immer in vielen Bereichen. Das was dann schrittweise demokratisiert wurde, als vor 300 Jahren die Sklaverei nicht mehr tragbar war, die zunehmende Etablierung von Menschenrechten und Aufklärungsideen, seit gerade hundert Jahren Frauenrechte/Frauenwahlrecht und Kinderrechte. Es ist kein Zufall, dass wir in den 70ern/80ern mit Menschenrechten für Menschenaffen angefangen haben.

Natur und das alte Rom? Hä?
Natur und das alte Rom? Hä?

Bereits die jungsteinzeitlichen, matriarchalen Kleinstaaten des Mittelmeerraums und Orients haben allmählich Übernutzungen hervorgebracht. Sie haben kein ausreichendes Ressourcenverständnis gehabt. Dadurch die Umwelt großflächig übernutzt und die Kulturen in Kriege verwickelt worden. Die Gesellschaft ist gekippt. Das ist auch heute das Schwierige an Ideologien. Dass natürlich nicht alles so funktioniert, wie wir es uns wünschen. Diese historischen Bezüge sind wesentlich, wenn wir über Naturnähe oder Naturferne in der Bewertung von Ökosystemen sprechen. Weil unsere Sichtweise auch bestimmt, ob wir uns als Teil der Natur erkennen oder uns getrennt erleben. Ein Naturschutz durch Menschen, die sich nicht als Teil der Natur sehen, führt oft zu fachlichen Fehlentscheidungen.

I: Das heißt, du siehst den Naturschutz der 70er als Phase einer Jahrhunderte langen Entwicklung?

H: Na sicher. Es war jetzt, zu dem Zeitpunkt, erstmals die technische Kapazität da. Erst die Industrialisierung und die Aufklärung haben die intellektuelle Kapazität freigestellt.

I: Was empfiehlst du Autodidakt*innen, die besser werden wollen?

H: Viel rauszugehen, sich gute Bestimmungsbücher zu besorgen, die die Artengruppen abdecken, Zeit damit zu verbringen und dann gegebenenfalls Rat zu suchen. Nicht zu erwarten, dass es in einem Jahr sein muss, sondern dass das Jahrzehnte dauert. Und manches Wissen genauso schnell wieder vergessen ist, wie man es gelernt hat. ­­

Ein gutes Bestimmungsbuch
Ein gutes Bestimmungsbuch. Einfach? Naja.

I: Aber wo fängt eine an?

H: Beim Einfachen! Zuerst die Artengruppe durchgehen: das ist die Artenvielfalt die da ist. Wir haben z.B. gut 100 Heuschreckenarten in Österreich. Wie kann ich die zuordnen, wie ist die Systematik, woran erkenne ich diese Formen. Das heißt sich einen Überblick schaffen. Am besten bildlich, und dann kommen recht schnell die Arten auf, die einfach zu erkennen und leicht zu finden sind. Zum Beispiel das große grüne Heupferd, das fast überall sitzt – uns aber erst auffällt, wenn wir den Gesang erkennen.

Danach kann man in jeder Artengruppe schnell die schwierigen Teilgruppen erkennen, wie zum Beispiel die Bläulinge bei den Tagfaltern oder die Schließmundschnecken bei den Landschnecken. So bekommt man eine Rahmenstruktur, in die man jede neue Art als neuen Punkt einhängen kann. Es ist einfacher, wenn ich weiß: aha es gibt die zwei großen Heuschreckengruppen, die einen sind die Kurzfühlerschrecken, die anderen sind die Langfühlerschrecken… und die einen haben das Ohr an der Seite, die anderen haben das Ohr am Vorderknie.

Wo ist das Vorderknie?!
Wo ist das Vorderknie?!

I: Wie ein grober Bestimmungsschlüssel?

H: Genau.

I: Was würdest du noch empfehlen?

H: Was ich noch empfehlen würde ist, sich ein paar Leute zu suchen und dann miteinander zu schauen und es zu entwickeln.

Aber grad bei Wirbellosen komme ich da an den Scheideweg, ich nenne es jetzt mikroinvasive Erhebungsmethoden. Kein Mensch würde heute noch bei einer Herzoperation jemandem den Brustkorb auseinandersägen und aufmachen, weil er wissen möchte was da ist. Sondern man würde das intelligent lösen, um möglichst wenig zu ruinieren. Aber gerade bei den entomologischen Arbeiten, arbeiten wir noch immer so, die sind oft maximal invasiv. Da werden riesige Berge an Leichen auf den Tisch geräumt. Wenn man die Screening-Methoden im Makrozoobenthos anschaut, wird dann aber kaum auf die Art bestimmt, weils dann eh zu schwierig und vor allem zeitaufwändig ist… das kann und will keiner so aufarbeiten… da steht dann nur noch ”Eintagsfliegen 715 sp.”

I: Das heißt man hat diese ganzen toten Tiere…

H: Die sind für nichts  gestorben. Und das ist einfach absurd. Man kann ja sagen, die leben eh nur für ein paar Wochen oder Monate. Aber es ist ein sehr seltsamer ethischer Zugang. Über den diskutieren wir überhaupt nicht in der Branche. Außerdem ist es selbst bei den Kleintieren so, dass wir nur in einem Jahrhundert vier Fünftel der gesamten Biomasse in Europa verloren haben. Da ist dann unser Kartierungszugang ein Symptom für unser Verständnis der Natur.

I: Und was kann eine dann stattdessen machen?

H: Du kannst die Fragestellung überlegen, die du bearbeitest. Ich halte es für absurd, wenn wir sehr artenreiche und nur mit invasiven Methoden erfassbare Artengruppen wie Wanzen, Zikaden und Spinnen als Indikatoren untersuchen. Sie bringen uns keinen Mehrwert zusätzlich zu dem Set an wertbestimmenden wirbellosen Arten wie Tagfalter, Heuschrecken, Libellen oder Schnecken.  Privat finde ich alle Artengruppen faszinierend, aber dazu muss ich sie nicht in Methodenstandards hineinzwingen. Ich erkenne eine Feuchtwiese in ihrer Gesamtheit als Schutzobjekt, da muss ich nicht jeden Organismus in dieser Feuchtwiese beschreiben.

Mit der Fotografie haben wir eine Möglichkeit  sehr viele Arten bestimmen zu können. Ich muss nur wissen, welches Detail ich suche und wie ich es fotografiere. Bei Bläulingen, zum Beispiel, fotografiere ich die Unterseite der Flügel. Manche Tierfotografen haben die Geheimtipps, dass sie die Tiere in eine Kühltasche stecken, damit sie sich nicht mehr rühren können.  Ich gebe Heuschrecken oder Tagfalter in ein Glas mit Schraubdeckel rein, damit sie sich beruhigen können. Dann lassen sie sich meist gut fotografieren.

Es gibt natürlich manche Arten, da geht es nicht ohne anatomische Untersuchungen am toten Tier, um die Art sicher zu bestimmen. Man muss entscheiden, in welchem Fall man sowas macht. Wenn ich bei einem  internationalen Eisenbahn- oder Autobahnprojekt eine Rote-Liste-Schneckenart finde und damit eine Änderung der Trasse argumentieren möchte – eine mehrere Milliarden Euro Investition umlenken – ist es angemessen, dass ich ein armes Viech heimnehme und unter dem Mikroskop seine Genitalien zerlege. Sonst glaubt es mir vielleicht keiner. Aber das war die einzige Schnecke, die ich in den letzten 15 Jahren massakriert habe. Weils einfach absurd ist und manchmal auch ernsthaften Schaden anrichten kann.

Artengruppen wie die Säugetiere, Vögel, Lurche, Kriechtiere, Tagfalter, Heuschrecken oder Libellen haben sich bewährt, weil sie relativ artenarme Gruppen mit vielen Indikatoren und einem guten Wissensstand sind. Das heißt, sie sind als Methodenset bewältigbar.

Ein leicht zu bewältigender Lurch...
Es gibt in ganz Österreich nur 16 Lurcharten. Die lernt eine in einem Tag.

Außerdem bringen gerade diese Arten eine sehr gute Information zum Verständnis komplexer Lebensräume, die ich über die Biotopkartierung nicht erklären kann. Das ist der Grund, warum ich manche Arten ich als Indikatoren nehme und andere nicht. Das ist aber nach wie vor eine ideologische Diskussion und es gibt unterschiedliche Meinungen.

I: Gibt es auch Nebenwirkungen?

H: Ja, Fallenmethodik zum Beispiel ist aufwändig und hat ernsthafte Nebenwirkungen. Mein erstes umfassendes Gutachten in Oberösterreich war für die vierte Linzer Donaubrücke in Oberösterreich 1993. Wir haben dort Smaragdeidechsen gefunden. Mit denen haben wir den Baustop erwirkt. Danach sind große, engagierte Laufkäferaufsammlungen gemacht worden, mit Barberfallen. Und genau dort sind die zwei letzten Smaragdeidechsenjungen gestorben. In den Käferfallen. Weil natürlich alles andere genauso in Alkohol reingeht und stirbt. So viel kann eine Straße oft nicht anrichten. Damals konnten die fachlichen Argumente eine Neuplanung erreichen. Jetzt steht das Projekt vor der Realisierung.

I: Wir haben jetzt viel über Arten geredet. Wenn sich eine ein Verständnis für Ökosysteme aneignen möchte. Wie kann eine da vorgehen? Ich habe zum Beispiel keine Ahnung, wie ein natürliches Bachufer aussehen soll. Ich kenne den Wienfluss, den Mödlinger Bach, die Mur… wie kann ich mir das aneignen?

Der Wienfluss vor der Restauration.
Der Wienfluss. Als Referenz für naturnahe Flussökosysteme eher ungeeignet.

H: Das aller allerwichtigste ist, das es dir komisch vorkommt, wenn es in unserem Klima in einem Wiesental keinen Bach entlang der Tiefenlinie gibt. Dort muss ein verrohrter Bach sein. Diese Neugier wird umso wichtiger, weil wir uns auch nicht mehr auf das legendäre „Großmutterwissen“ ausreden können. Die wissen es nämlich auch nicht mehr. Dass du den Zustand einer Landschaft nicht als gegeben und schon gar nicht als  „natürlich“ annimmst. Genauso wie es jedem in Ladakh komisch vorkommen muss, das er keinen Baum hat, weil sie eine hohe Baumgrenze haben. Dass der Zustand, den wir sehen, nicht der normale Zustand ist, sondern oft ein degenerierter Teil innerhalb des Entwicklungspotentials.

verrohrte baeche
Verrohrte Bäche in Wien (schwarz). Eigentlich würde es hier also anders aussehen. (Gabriel Strommer)

I: Aber wie schaffe ich mir einen Referenzzustand, wenn alle Referenzen spezielle Einzelfälle sind und der Rest kaputt ist?

H: Indem ich Erfahrung sammle, durch fragen, durch suchen und verstehen. Eine kleine Referenz ist unser franziszäischer Kataster. Der ist aber auch nur ein ganz kurzes Fenster zurück. Indem ich mir zonale Ökosystemkunde aneigne. Was sind zonale, was sind azonale Systeme; was ist typisch im gemäßigten Biom, wie ist die Bandbreite.

Orthofoto
Ein Satellitenbild: so sieht es heute aus (mapire.eu/de, 9.1.17)
Franziszeischer Kataster
Der Franziszeische Kataster: So hat es 1850 hier ausgesehen (mapire.eu/de 9.1.17)

I: Aber ich habe keine Ahnung, wie die tatsächlich aussehen. Ich habe das alles nur theoretisch durchgemacht. Wie kann ich sowas lernen?

H: Indem du dir Gelegenheiten schaffst, viele Stellen zu sehen. Man muss sich Zeit nehmen. Indem man sich Leute sucht, Austausch pflegt. Für jede Artengruppe gibts mittlerweile interessierte Netzwerke. Ich bin persönlich nur bedingt glücklich geworden, weil jeder spezialisierte Verein notgedrungen das übrige Universum auszublenden beginnt. Wenn dann ein paar Leute beieinander sitzen und die Leichen des letzten Spaziergangs vergleichen…

Für mich sinds zwei Sachen. Das Eine ist der Spieltrieb und die Neugierde und das man das ernst nimmt. Das Zweite – das gegenwärtig größte Defizit an der professionellen Arbeit – ist der Zugang, die Viecher nach wie vor gern zu haben. Sie nicht zur Sache werden zu lassen.

I: Wow, danke für das Gespräch. Jetzt bin ich richtig motiviert gleich rauszugehen.

H: Bitte gerne 🙂

 

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